Wie viele Geschichten uns die 1,6 Millionen Mobbingopfer in Deutschland wohl erzählen könnten? Mindestens 1,6 Millionen, klar. Und wie viele Geschichten kämen noch hinzu, wenn bekannt wäre, wie hoch die Dunkelziffer derjenigen ist, die Hänseleien bei der Arbeit, in der Schule oder im Internet erfahren haben? In irgendeiner Weise kamen die meisten mit diesem Thema schon einmal in Berührung. Ob als „Mobber“, als „Opfer“, als Freund oder Verwandter einer der beiden oder durch Geschichten – persönlich oder vom Reporter im Fernsehen erzählt. Oftmals sagen Außenstehende, sie können sich gar nicht vorstellen, dass dieser oder jene gemobbt wurde. Dieser (oder jene) seien doch durchaus hübsch und nett sowieso. Es steht also fest – und das sollte sich wirklich jeder bewusst machen – ein Mobbingopfer wird niemand aufgrund seines Äußeren oder seines Charakters. Es wird einfach nur jemand auserwählt. Die, die jemanden auswählen, tun dies wahrscheinlich, weil sie Angst haben, sonst selbst in dieser Position zu laden. Die Flucht nach vorne. Die wenigstens Menschen sind so stark und so gefestigt, dass sie sich dieser Person entgegenstellen. Daraus ergibt sich die Situation, in der sich das „Opfer“ alleine vor einer Wand aus personifizierter Ablehnung wiederfindet. Und in genau dieser Situation haben alle ein Problem. Vor allem die „Mobber“ mit sich selbst, aber das würden sie nie zugeben. Die Abwertung der „anderen“ nicht zu verinnerlichen ist eine der schwersten Aufgaben, vor die die Ausgegrenzten gestellt werden. Ohne die Hilfe und Unterstützung von Angehörigen, Freunden oder dem Chef bzw. der Lehrer lässt sich die Hürde umso schwerer nehmen. Wichtig ist diesem Fall ist, dass Hilfe und Unterstützung nicht Mitleid und Schokolade kaufen bedeutet. Sondern viel mehr die Person (das „Opfer“) in seiner Persönlichkeit zu stärken und ihr zu helfen, das Gute zu sehen. Vor allem in sich.
„Mobbingopfer“-sein für Anfänger
Aufgrund persönlicher Erfahrung spielt die folgende Geschichte in der Zeit der Orientierungsstufe.
Als ich mich in der Situation der „Gehänselten“ befand, war ich zunächst verwirrt: Gestern – ohne Quatsch, einen Tag vorher – war alles noch gut und heute sitzt meine beste Freundin an dem anderen Ende des Klassenraums. Verunsichern kann man mich gut, das ist kein Geheimnis. Und das hier verunsichert mich. Bei Verunsicherung weine ich, auch das ist kein Geheimnis. Aber morgen wird ja alles wieder normal sein, so viele Taschentücher werden schon nicht drauf gehen. Heute ist morgen, warum tuscheln alle? Vor einer Woche dachte ich, dass bald alles wieder beim alten sein wird, aber mir fliegen immer noch klebrige Kaugummis ins Haar. Vor einem Monat flog mir noch Kaugummi ins Haar, inzwischen wird mir zur Begrüßung die Luft abgedrückt. Aber das wird schon alles wieder besser. Denn, selbst wenn es nicht besser wird, wird es ja einen Grund geben, dass ich „bestraft“ werde, oder?
Wenn ich davon jemandem erzähle, wissen ja alle, dass ich etwas falsch gemacht habe.
Wenn ich davon jemandem erzähle, wissen ja alle, dass ich etwas falsch gemacht habe.
„Mobbingopfer“-sein für Fortgeschrittene Version 1 (Ich habe ein Geschenk für dich, dein Mobbing-Opfer, das bin ich)
Das einzige, was mich inzwischen noch verwirrt ist, dass ich noch einen Fuß in die Schule setze. Ich habe meinen Eltern erzählt, was seit Monaten los ist. Und dass meine beste Freundin ihre Schokolade jetzt mit wem anders teilt – und dabei über mich lacht. Und dass mir im Matheunterricht mit der Spitze vom Zirkel in den Oberschenkel gestochen wird. Immer. Wieder. Ich bekomme Mitleid. Mein Zuhause wird zu einer immer geschützteren Höhle. Die Welt ist schlecht, ich kann nichts tun, ich bin ausgeliefert. (Diese Gedanken spulen wir jetzt einfach für die nächsten Monate und danach auch immer bei Bedarf – sprich: ständig – ab und es wird schwer das Leben als Chance für etwas Schönes zu nutzen.)
„Mobbingopfer“-sein für Fortgeschrittene Version 2
Das einzige, was mich inzwischen noch verwirrt ist, dass ich noch einen Fuß in die Schule setze. Ich habe meinen Eltern erzählt, was seit Monaten los ist. Und dass meine beste Freundin ihre Schokolade jetzt mit wem anders teilt – und dabei über mich lacht. Und dass mir im Matheunterricht mit der Spitze vom Zirkel in den Oberschenkel gestochen wird. Immer. Wieder. Ich bekomme Mitleid und das das-Leben-hat-mehr-zu-bieten-als-frustrierte-Mitschüler-Programm. Da wird die „Alles-Krankheit“ am Morgen zwar ernst genommen, aber spätestens am Nachmittag in der Gesprächsgruppe mit „Leidensgenossen“ werden Ideen gesammelt, was u.a. gegen die Alles-Krankheits-Bauchweh helfen kann. Meine Mutter erzählt mir jeden Morgen, dass sie Stolz ist, dass ich mich „den anderen“ stelle und dass ich mir keine Sorgen machen solle, weil sie und mein Vater mich gut finden. Und weil sie sich nicht irren werden, werden mich auch andere gut finden. Beim letzten Termin des Gesprächskreises kam es zu dem Thema, dass schon immer eine Person von einer Gruppe auserwählt wurde und somit eine Sonderstellung einnahm. Weil sie etwas konnte, was die anderen a) bewunderten oder b) nicht verstanden. Entweder führte dies dazu, dass der oder die Auserwählte plötzlich auf einem Thron saß oder aber gerade auf dem Weg zum Scheiterhaufen war. Letztendlich war es wohl Schicksal, wer wann wo von wem als was angesehen wurde. Fakt ist: Die Hexenverbrennung gibt es nicht mehr – zu recht. Aber Könige – oder ähnliche hochangesehene Persönlichkeiten -, die gibt es. Nun soll ich mich also als Königin betrachten. Mein erster Gedanke dazu: Dürfte ich dann eventuell für mein Folk die Hexenverbrennung doch wieder einführen? Mein zweiter Gedanke: Jetzt geht es gleich wieder damit los, das jeder das betrachtet, was er besonders gut kann. Das hatten wir doch alles schon: Ich bin gut in Mathe, ja. Aber warum werde ich dann besonders während dieses Unterrichtfachs geärgert? Vorzugsweise durch Stechen mit der Zirkelspitze in meinen Oberschenkel. Inzwischen läuft das alles schon fast ein Jahr. In ein paar Wochen steht für alle der Wechsel zur weiterführenden Schule an. In den Pausen treffe ich immer öfter Leute, die nett sind. Leute aus dem Gesprächskreis. Vielleicht sind die „anderen“ in meiner Klasse, einfach nicht passend für mich.
Nach den Sommerferien nun eine neue Schule, neue Mitschüler und ein gutes Gefühl. Ich sehe (mehr oder weniger) aus wie vor einem Jahr, ich bin (mehr oder weniger) genau der gleiche Mensch, wie vor einem Jahr – auf keinen Fall war ich vor 12 Monaten weniger liebenswert als heute. Aber ich habe etwas gelernt: Alles ist in Ordnung, weil ich in Ordnung bin und alle in Ordnung sind. Prinzipiell sind nämlich sehr viele – ja, die meisten – Menschen in Ordnung.
Vielleicht auch die, die aus persönlicher Problematik heraus beginnen, andere fertig zu machen. Darauf möchte ich allerdings nicht festgenagelt werden.
Für „Ehemalige Mobbingopfer“
Neulich traf ich eine Mitschülerin von damals. Da zu der Zeit alle gegen mich waren, war sie also eine von ihnen. Sie quatschte auf mich ein, als wäre nie etwas gewesen und zwischen lauter uninteressanten Sachen aus ihrem Leben erzählte sie mir, wie neidisch sie damals alle auf mein Wissen in Mathe gewesen waren.
Neidisch waren sie. Ich war auserwählt, weil ich etwas besser konnte?! Ich war die Königin.
Mein Weg durch die Zeit des Mobbings war heikel und es gab steile Hürden zu überwinden. Aber ich habe die Hürden genommen und bin einfach auf der höchsten oben drauf stehen geblieben, weil ich festgestellt habe, dass ich viel Größer bin, als die, die sich ihre Probleme nicht eingestehen können.
Von hier oben sieht man gut und klar und ist von vielen Erfahrungen gepolstert.
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Manchmal denke ich, ich habe das alles verarbeitet. Dann ist es wieder voll präsent. Ich kann nicht sagen, dass ich aktuell Angst davor habe, noch einmal ein richtiges “Mobbing-Opfer” zu werden. Aber die Angst vor dem Außenseiter-sein ist groß. Außenseiter-sein, -werden. Dazu gemacht werden oder sich selbst dazu machen. Ich weiß inzwischen, was man dafür oder dagegen tun kann – ganz unbewusst. Wie bereits vor einigen Tagen geschrieben, fühle ich mich einfach nicht mehr drin, in diesem Soziale-Kontakte-Flow. Wer mich kennt, weiß, dass ich schon ein Harmonie-Sensibelchen bin, wenn ich drin bin. Aber jetzt bin ich draußen.
Es gibt keinen Grund, mich zu mobben. Okay? Und den gab es auch früher nicht. Das war falsch, was ihr gemacht habt. Das war falsch, dass ihr euch stark gefühlt habt. Und es ist falsch, dass ich mich deswegen dann und wann immer noch schwach fühle.
Ich kenne die Lösung nicht, um nicht unter anderen zu leiden. Und ich weiß nicht, ob es jemand gibt, der in dieser Zeit die optimale Unterstützung erfahren hat. Aber ich weiß, dass ich gerade fürchterlich wütend auf die bin, die mobben. Ich kenne auch Menschen, die Fehler haben, die angreifbar sind und die ich nicht mag. Aber was sollte mich auf eine Stufe heben, von der aus ich anderen wehtun darf.
Danke, dass du den Mut hast, deine Geschichte zu teilen. Und das macht mir wiederum Mut! Ich war auch jahrelang eine Außenseiterin. Und obwohl ich immer dachte, es wäre mir egal, muss ich jetzt sagen: Klar, tat es weh. Obwohl ich die Leute, die mich gemieden haben, nicht mal sonderlich mochte.
Ich wehre mich jetzt. Und das würde ich auch allen anderen raten. Niemand hat das Recht, euch wehzutun! Haltet den Kopf immer oben und den Blick nicht gesenkt.
Liebe Grüße.