Weil ich es gerade nicht auf die Reihe bekomme, etwas zu schreiben, zeige ich euch etwas altes, das nie einen richtigen Abschluss gefunden hat.
Aus den Augen eines harmoniefanatischen Mädchens mit einem sehr ausgeprägten Hang zur Melancholie und dunkelrot lackierten Fingernägeln betrachtet ist es nicht leicht, jeden Tag unbeschadet zu überstehen. Alle erdrückenden Eindrücke, die in jeder Sekunde auf sie niederrieseln, sind manchmal kaum zu ertragen. Sie erdrücken ihr Herz mit einer festen Umarmung vor lauter Glück oder sie erdrücken es, weil ein riesiger Felsbrocken aus Sorgen und Kummer darauf ruht. Nein, hier geht es nicht um mich. Mir geht es gut, ich komme mit allem zurecht. Das erwartet man doch auch von mir. Mir geht es wirklich gut. Diese Geschichte handelt von Charlotte, eine Freundin, manchmal mit der Tendenz zur Feindin, von mir. Wahrscheinlich ist Charlotte eine großartige Person. Ich weiß es, weil ich weiß, was sie weiß. An manchen Tagen geht sie durch das Leben, als wäre sie bereit, alles zu verändern und an anderen Tagen ist sie bereit sich vom Leben verändern zu lassen. Es ist schwierig für sie, ihren Platz auf dem Planeten, auf dem wir leben, zu finden. Sie sucht ihn. Und sie wird ihn finden. Mit mir. Wir machen uns gemeinsam auf die Reise. Nicht durch 20 verschiedene Länder, sondern durch unsere Gedanken und die Herzen anderer.
Heute ist ein guter Tag. Der Tag des Aufbruchs. Charlotte und ich haben kaum geschlafen. Gedanklich waren wir die ganze Zeit schon dabei, das Abenteuer zu starten. Wir wussten, welche Songs wir in der nächsten Zeit hören wollten und wir wussten auch, mit wem wir diese teilen wollten. Und mit wem nicht. Jetzt, in diesem Moment, stehen Charlotte und ich uns so nahe. Wir sind auf einer Länge, wir haben ein gutes Gefühl, unser Herz schlägt im Einklang der freudigen Nervosität. Wir liegen noch auf meinem Bett, das Fenster geöffnet, die Geräusche des Frühlings strömen herein. Aus irgendeinem Grund zwitschern die Vögel heute besonders fröhlich und man kann hören wie der Wind das Unbehagen des Winters fortbläst. Das hört sich verdammt gut an. Ich schalte den klapprigen Plattenspieler an. Die knisternden Töne und Gisbert zu Knyphausens Stimme schleichen sich in unser Herz. Der Herzschlag nimmt den Rhythmus der Musik an, die Melodie bettet uns weich. Wir liegen dort entspannt gespannt und atmen, denken und lauschen. Nur noch dieses eine Lied und dann geht es los.
Unsere Koffer sind leer. Die alten Lasten sind zu schwer für den anstehenden Trip. Alles, was wir brauchen, haben wir in uns. Die Melodien der Musik, die wir lieben, den Mut, der uns manchmal noch verunsichert, die Leidenschaft, die uns stärkt, die Sehnsucht, die uns antreibt, die Einsamkeit, die uns schützt und den Wahnsinn, ohne den wir überhaupt nicht existieren würden.
Wir rennen los. Nackt und doch komplett bekleidet, verkleidet. Mit der Maske der vergangenen Zeit.
Charlotte und ich müssen zueinander finden, bevor wir meinen, ihren, unseren Platz finden. Bevor wir wissen, wohin wir wollen und bevor wir jemanden finden, der uns begleiten soll. Wir müssen uns akzeptieren. Eigentlich muss nur ich sie endlich akzeptieren. Aber das ist gar nicht so leicht. Charlotte mit ihren ganzen Macken, Ängsten, Wünschen und Träumen so zu nehmen, wie sie ist. Wenn ich jetzt sage: „Charlotte bin ich.“, dann stimmt das zwar, aber ich fühle es nicht. Sie ist wie mein Schatten. Oder ich bin ihrer. Wir gehören zusammen. Wir sind keine einzelnen Personen, wie sind nur gemeinsam einsam. Es ist so viel passiert, dass uns auseinander gebracht hat. Es hat uns so nah aneinander geschweißt, dass es nicht mehr auszuhalten war. Es gibt so vieles zu verarbeiten, aber ich möchte nicht über die Ereignisse nachdenken. Doch ich will mich auch nicht weiter von mir distanzieren. Wo soll denn das hinführen? Ich brauche Zeit. Ich brauche diese Reise. Ich brauche Träume. Ich brauche kalten Wind in meinen Haaren und Geräusche, die den Takt für meine Schrittfolge vorgeben.
Manchmal erschöpfen einen die Vorbereitungen für einen Ausflug so sehr, dass man sich gar nicht mehr sicher ist, ob es diese Mühe überhaupt wert ist. Kenntst du das? Ich kenne es sehr gut.
Ich bin unterwegs. Charlotte ist nicht bei mir, sie ist heute Morgen im Bett geblieben. Dort hätte ich mich auch den ganzen Tag über am wohlsten gefühlt. Es ist kein guter Tag für die Realität. Er ist zu perfekt für ein unperfektes Leben. An solchen Tagen möchte ich die Personen, deren äußerst originelles Lebensmotto „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deine Träume“ lautet, am liebsten im Recyclingmüll entsorgen. Vielleicht sind sie nach der Wiederaufbereitung besser zu gebrauchen. Nichts können Charlotte und ich so gut gemeinsam, wie uns in andere Welten träumen. Wir sind Teil der Songs, die sich anfühlen, als wären sie nur für uns geschrieben worden, wir sind Teil der Bücher, die wir ständig zitieren möchten, weil das, was dort geschrieben steht so heilsam klingt und wir sind Teil von den Filmen, die von dem Leben erzählen, das wir eigentlich führen sollten. Wo bleiben im wahren Leben die durchzächten Nächte mit dem heißen Schauspieler aus meiner Lieblingsserie? Erst, wenn dieser in meinem Bett auf mich wartet, bin ich bereit für ein Leben hier. Heute bin ich so ganz und gar nicht hier, nicht bei mir. In mir ist Leere und in dieser Leere ist ein Kampf. Ein Kampf, den niemand gewinnen kann, weil ich nicht weiß, mit wem ich kämpfe. Es ist diese unerbitterliche Sehnsucht, die Sehnsucht, die ich so sehr liebe, die in mir alles zerstört und doch wieder aufbaut. Die Charlotte rausschmeißt und dann kurz wieder hinein lässt.
Mich fragte einmal jemand, was ich denn zu Hause immer so mache. Ich antwortete: „Sitzen.“ Nach einer nicht sehr ernsthaften Diskussion darüber, wurde dieses „Sitzen“ zu einer Art Running-Gag. Ich lachte mit darüber, es fällt mir nicht schwer, mich selbst komisch zu finden, doch diese scherzhaften Worte über mein vermeintliches Hobby taten auch jedes Mal ein bisschen weh. Jetzt gerade sitze ich auch. Ich sitze nur, etwas anderes wäre für dich nicht zu erkennen. Doch in mir tobt etwas kräftezehrendes, etwas, das mich verstummen lässt, weil auch fürs Sprechen keine Energie übrig bleibt. Ich sitze und schaue. Ich sehe meine Katze hinter dem Fenster liegen. In diesem Moment vermisse ich sie furchtbar. Aber ich weiß, wenn ich die Terrassentür öffne und sie streichele, fühlt es sich nicht so an, wie es mir mein Kopf gerade vorgaukelt. Die Realität macht alles kaputt.
Ich gehe zurück zu Charlotte. Das erste mal an diesem Tag fühle ich mich wieder gut. Mein kleines, kaputtes, altes Ich klammert sich um meine Beine, wie ein Kind, das mich vermisst hat. Es fühlt sich schön an, doch das Fortbewegen ist kaum noch möglich. Ich möchte Charlotte hoch heben und fest an meinen Oberkörper drücken. Sie soll wissen, dass ich sie beschütze. Aber danach möchte ich sie heruntersetzen und weggehen. Ein tiefer Atemzug. Weggehen, das wäre gut. Doch wohin?
Es ist heute so still. Unerträglich still. Meine Ohren wehren sich gegen angenehme Geräusche. Ich möchte gar nichts hören. Ich möchte nur fühlen.
Ich möchte in deinen Armen liegen. Das wäre jetzt das Größte. Und ich möchte an dir riechen, das ist wie Medizin. Aber bevor ich zu dir gehe, muss ich ganz sein. Ich hoffe, du wirst auf mich warten. Wenn du es nicht tust, bleibt mir wenigstens das Verlangen nach dir. Dieses Verlangen ist wie die Vorfreude darauf auf dem nächsten Jahrmarkt wieder mit dem Kettenkarussell fahren zu können. Du bist besser, als jeder Kettenkarussellfahrt. Aber wenn ich dir das sagen würde, würdest du noch selbstverliebter werden, als du es eh schon bist.
Mein Wecker zeigt noch nicht einmal 19 Uhr und ich möchte heute nicht mehr aufstehen. Ich möchte bis ans Ende meiner Reise hier liegen oder sitzen und denken und schreiben.
In mir ist dieses Gefühl, das man kurz nach der Ankunft am Urlaubsort hat. Man ist angekommen, hat die Auto-, die Zug-, die Schifffahrt oder den Flug heil überstanden. Man ist froh, aber auch erschöpft. Man möchte alles auf einmal machen und es trotzdem in Ruhe angehen. Irgendwie überfordern einen diese ganzen Gedanken und trotzdem fühlt man sich gut, weil man weiß, dass man eine gute Zeit vor sich hat. Die Zeit, auf die man so lange gewartet hat. Wegen der man, je nach persönlicher Lebenssituation, jeden Tag ein Kreuzchen in seiner „noch so und so viele Tage bis zu den Ferien“-Liste oder einen Eintrag in dem von der Firma gesponsorten BlackBerry gemacht hat. Jetzt ist man da. Bloß nicht darüber nachdenken, dass der Moment der Freiheit hier und jetzt vergänglich ist. Krampfhaft unverkrampft bloß nicht darüber nachdenken. Weg mit dem Unbill der Tage. Ankommen und die Mundwinkel, genau, ein Stückchen nach oben ziehen.
Heute ist so ein ganz anderer Tag, als gestern. Obwohl die äußeren Umstände nahezu identisch sind. Die Luft, die Sonne, die Ruhe. Aber ich fühle mich gut. Heute habe ich beschlossen, bei Charlotte zu sein. Sie zu sein. Ich zu sein. Ich bin im Bett geblieben. Aber später, da werde ich raus gehen – zusammen mit Charlotte. Die Geräusche sind heute besser zu ertragen, meine Ohren sind gutmütig. Heute ist der erste Tag der Entspannung. Ich bin bereit, einen groben Plan für das zu machen, was ich in der kommenden Zeit machen möchte und ich bin bereit, in den Tag hinein zu leben. Ich habe Lust auf Neues und auf die guten, alten Erinnerungen. In meinen Gedanken bin ich stark, doch meine Muskeln sind schwach. Heute wäre ich gerne im Damals. Ich weiß nicht, ob ich mal über einen längeren Zeitraum ich und nicht wir war, aber es gab Tage, an denen ich groß war. Groß sein kann ich nur mit Unterstützung. Mit Bestätigung. Und Bestätigung finde ich immer nur bei den Lebewesen, die nicht mit mir sprechen können. Die Sommertage auf dem Hof bei meinem Pferd waren fast unwirklich leicht. Ich vermisse dich, Farandi, und mich. Vielleicht werde ich dir das hier eines Tages vorlesen. Und dann küsse ich deine Nüstern und du blinzelst mit deinen wunderschönen, großen, braunen Augen. Ich liebe dich. Ich hoffe, es geht dir in diesem Moment besonders gut. Ich wünschte mir, man könnte das Wohlbefinden anderer mit einem guten Gedanken an sie positiv beeinflussen. Vielleicht kann man es. Ich probiere es jeden Tag aufs Neue.
Rot-weiß gestreifte Flip-Flops neben der Sonnenliege. Ich bin im Garten. Kann schwer sagen, ob mit oder ohne Charlotte. Ich glaube, ich bin nicht als komplette Person anwesend, aber Charlotte ist in meiner Nähe.
Ich empfinde den Wechsel der Jahreszeiten jedes Jahr intensiver. Der Winter scheint immer düsterer und der Frühling immer wärmer zu werden. Mein Nagellack blättert ab. Ich sollte mir die Fingernägel neu lackieren, aber mir ist nicht danach. Mir ist nach Reisen und der Sonne auf meiner blassen Haut. Ein gefühlsmanipulierendes Lied wäre jetzt auch nicht verkehrt. Doch irgendetwas in mir sträubt sich vor jedem Anschalten des MP3-Players. Dieses Gerät ist viel zu unpersönlich, viel zu klein, für die ganz großen Emotionen. Die großartigste Art Musik zu genießen ist die, sie live zu erleben. Du siehst die Interpreten des Songtracks deines Lebens dort auf der Bühne vor dir stehen. Sie spielen für sich, für dich und für alle, die in diesem Augenblick das Gleiche fühlen. Nichts gibt mir so viel Halt, wie Live-Musik. Wie den Musikern beim Leben zu zuhören. Der Klang der fremden Leben, der dich immer umgibt. Das Rauschen der Wolken, das Knistern der erwachenden Blumen. Das Stottern der Herzen.
Ich habe den Geruch von frisch gepflückten Erdbeeren in der Nase, obwohl noch längst keine Erdbeersaison ist. Die Streiche, die dir deine Sinne manchmal spielen, sind so fabelhaft. Nichts ist so gut, wie das, was gar nicht da ist.
Packt dich auch das Ziehen des Fernwehs, wenn du die weißen Flugzeugspuren am blauen Himmel siehst? Ich war noch nie in einem Flugzeug, bin noch nie geflogen. Ich habe Angst davor, durch die zarten Wolken zu fliegen und sie zu zerstören. Dann wäre ich nicht besser als die Bienen, die sich früher immer rotzfrech in meine Zuckerwatte gesetzt haben. Sie haben meinem Kinderherzen einen Vorgeschmack auf die Charaktere gegeben, die ich später noch treffen würde. Menschen, die dir deine Zuckerwattenmomente eiskalt zerstören. Ich habe jetzt schon zu viele dieser Menschen kennen gelernt. Aber haben sie etwas mit dem Konflikt zwischen Charlotte und mir zu tun? Ich glaube nicht. Ich glaube, ich sollte mir Gedanken darüber machen, ob ich nach dieser Reise meinen Weg gemeinsam mit Charlotte bestreiten möchte oder ob ich sie, in sicherer Umgebung, zurück lassen werde.
Vergangene Nacht hatte ich einen verwirrend klaren Traum. Ich habe Charlotte gesehen, als Kleinkind auf den Armen des Mannes, den ich eigentlich „Papa“ nennen sollte. Ihre Augen waren ängstlich aufgerissen, weil er sie unbekümmert grausamen Bildern aussetze. Ich habe ihn entsetzt und voller Hass angeschrien, Charlotte zu mir genommen und habe versucht, mit ihr an einen sicheren Ort zu gehen. Charlotte war so zart und wunderschön. Mein Herz hat sich gleichzeitig zusammen gezogen und ausgedehnt. Dann fragte ich Charlotte, was ich für sie tun könne und sie wollte nur eine schutzgebende Umarmung. Wie kann es sein, dass das einzige, was ein Kind vermisst, eine Umarmung ist? Dieser Traum passt so sehr zu meiner Reise, dass ich es schon erschreckend finde.
Ich fühle mich heute Morgen, als wäre ich von einem riesigen Trecker mit Gülleanhänger überfahren worden. Ich habe die ganze Nacht mit der Dunkelheit gekämpft. Obwohl sie nicht einmal da war. Ich, oder Charlotte, ertrage keine schwarze, ritzenfüllende Dunkelheit. Darum schlafen wir beide immer bei Licht. Das ist die einzige Möglichkeit für uns, gut zu schlafen. Auch, wenn wir deshalb bestimmt schlecht schlafen. Doch manchmal muss die Helligkeit für das Wohl anderer weichen. Schließlich sind Charlotte und ich nicht grundsätzlich jede Nacht alleine. Mein Unbehagen wegen der nahenden Dunkelheit beginnt an solchen Tagen schon dann, wenn es noch hell ist. Die Dunkelheit hat einen schwarzen Umhang, der versuch mich zu erdrosseln, sobald er um meine Schultern gelegt wird. Wenn ich in der Nacht Autofahre, vergesse ich nach jedem Atemzug aufs Neue, wie das mit dem gleichmäßigen Luftholen noch einmal ging. Um mein ganzes Auto herum Dunkelheit. Es macht mich fertig. Gut, dass es jetzt hell ist. Ich weiß noch nicht, was ich mit dem heutigen Tag anfangen werde. Die Sonne scheint schon wieder so aufmüpfig.
Mein Bett ist der sicherste Ort auf der ganzen Welt. Wenn ich hier liege besteht kein Zweifel daran „Ich“ zu sein. Neben meinem Bett steht der Plattenspieler, liegen Schallplatten und Bücher, Socken, Kerzen, Kissen. Sie bilden meine Schutzmauer. Ich bin hellwach. Bin total da und völlig weg. Fühlt sich nicht schlimm an. Kann grinsen und es ernst meinen. Das ist nicht selbstverständlich. Meistens erkennt man mein Lachen eher, wenn man mich auf den Kopf stellt. Ich weiß nicht warum ich so selten fröhlich drein schaue. Nicht mein Thema. Habe Lust auf Lippenstift und Marshmallows. Möchte in einem VW-Bulli liegen, Sterne gucken und dabei bezaubernd aussehen.
Ich meine eine gewisse Kreativität zu besitzen, aber die Kunst des Sonnenliegeaufbauens beherrsche ich nicht. Vielleicht lege ich es auch falsch aus und es handelt sich dabei um eine Kampfsportart. Gut, die Sonnenliege ist jetzt auch nicht gerade das modernste Exemplar, das man sich vorstellen kann. Sie stammt aus dem Wochenendhaus meiner Urgroßeltern. Früher mochte ich sie nicht benutzen, weil ich überzeugt davon war, dass irgendwann einmal jemand darauf gestorben ist. Nun liege ich hier.
Wenn ich dir sage, dass du mir wehtust, dann ist das kein Vorwurf – es ist lediglich eine Feststellung. Denk daran, wenn ich es ausspreche. Ich werde es nicht aussprechen, weil ich Angst habe, dass es zu vorwurfsvoll klingt, wenn ich es feststelle. Ich nehme auch scherzhafte Fragen als Herzdurchschuss wahr. An manchen Tagen überfällt mich eine unkontrollierbare Panik vor dem Tod. Es ist die gleiche Panik, die mich überkommt, wenn ich mich eingeengt fühle. Ich bekomme diese Gefühle, wenn ich einer Situation nicht ausweichen kann. Ich brauche immer dieses Hintertürchen, das mir ermöglicht, anstehende Termine abzusagen oder eine Veranstaltung früher zu verlassen. Und es ist höchst fragwürdig, ob das hinhaut, wenn ich sage: „Sorry, Tod, heute fühle ich mich nicht in der Lage zu sterben… ich meld’ mich wieder!“. Dabei erwartet mich doch nach dem Tod die Freiheit schlechthin. Könnte aber auch recht anstrengend im Himmel werden, wenn ich die ganzen Wolken vor den Flugzeugen beschützen muss. Na, hoffentlich haben die da oben gute Energiedrinks. Am liebsten wären mir welche mit Wassermelonengeschmack.
Es war eine große Hürde heute Morgen die staubigen Jalousien hochzuziehen und mich von dem Tageslicht beobachten zu lassen. Es hat mich geschafft. Meine Kraft ist weg. Ich dachte, ich hätte diese Phasen hinter mir gelassen. Ich sehe meine schwarzen Haarspitzen in der Sonne glänzen. Ich fahre mit meinen Fingern durch meine Haare, halte sie vor meine Augen und überzeuge mich davon, dass mein Haaransatz schon lange wieder meine rot-braune Naturhaarf arbeangenommen hat. Ich wollte doch jetzt bereit sein zum Leben, doch merke ich, wie es mich zurück zu Charlotte zieht. Charlotte ist so liebenswert. Stillschweigend, ruhig und seltsam entspannt sitzt sie in einer Ecke meines Bettes und wartet auf mich. Sie wirkt größer als ich es bin. Das ist nicht richtig. Sie könnte mich in den Arm nehmen und halten. Jede Sekunde nähere ich mich ihr mit einem flachen Atemzug. Es wäre nicht gesund, mich ihr wieder unterzuordnen. In dem Moment, wo ich es sage, legt sie schon ihre Hand auf meine Schulter. Ich fühle mich zu Hause. Möchte den Tag aussperren. Möchte keinen Reizen ausgesetzt sein. Möchte von keinen Farben schreiben. Möchte Ruhe. Möchte keine Reize. Ich möchte keine Reize. Wann war es zuletzt still? Ich meine richtig still. Entweder zwitschert ein Vogel oder mein Atemzug ist zu laut. Der Himmel ist bedeckt. Zwischen den weiß-grauen Wolkenbildern schimmert eine himmelblaue Bosheit hindurch. Es hat lange nicht mehr geregnet. Es hat mir gefallen, einzig und allein mit der Wärme zu verschmelten. In mir zieht ein Unwetter auf. Meine Gedanken lähmen mich. Ich bin nicht in der Lage irgendwelche Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Regentropfen trommeln auf mein Zuckerwattenherz. Es beginnt zu einer ekeligen Masse zu verklumpen, bevor es sich auflöst und das Wasser, der Regen, die Tränen anfangen sich in mir auszubreiten, bis ich drohe zu ertrinken. Aus meinen Augen rinnt ein heißer Bach. Unter Wasser ist das Atmen schwer. Ich atme nicht gerne. Wenn ich die Luft anhalte, tut alles viel weniger weh.
Meine Gesichtshaut ist trocken und mein Nagellack splittert, es sieht nicht schön aus. Der Lack meiner Fassade blättert ab. Ich möchte ihn abkratzen, aber so bin ich nicht. Erstmal noch ein bisschen den Schmerz ertragen und ihn dann später, morgen oder sonst wann, mit dem Nagellackentferner wegätzen. Mein fades Ich wird noch früh genug wieder durchscheinen. Ich rolle mich in meinem – Nein, in Charlottes – Bett zusammen. Meine Bettdecke riecht nach dem Raumspray, das mit vorgaukelt, etwas zu sein. So viele Gedanken, dass zum Denken kein Platz ist. Charlotte nimmt mein Gesicht in ihre kleinen, altaussehenden Hände. Sie ist das älteste Kind, das ich mir vorstellen kann. Ich schmiege mich an sie. Ich wäre so gerne eine kleine Blattnasenfledermaus, die sich Kopfüber an die Pullover ihrer Beschützer krallt.
Ich habe ein Doppelkinn bekommen, wie scheiße sieht das denn aus? Ich versuche es durch diszipliniertes Süßigkeitenkauen wegzutrainieren. Warum wurden Süßigkeiten erfunden, wenn Männer schlanke Frauen wollen?
Meine Heizung gluckert ständig. Es tut mir richtig in den Ohren weh. Sie soll aufhören. Ich will mich nicht aus meinem Bett bewegen. Will hier liegen und ab und zu blinzeln. Ich will mich nicht festlegen, ob meine Augen längere Zeit geöffnet oder geschlossen sind.
Endlich tritt die Dämmerung ein. Ich kann meine Alltagstarnkluft in meine Schlafsachen, bestehend aus einem alten Tourshirt und einer karierten Hotpants, tauschen und ohne schlechtes Gewissen die Außenrolläden runterlassen. Beim Umlegen des Schalters breitet sich Wohlbehagen in mir aus. Der Motor der Rolläden surrt – so hört sich mein Zuhause an. Es gibt zwei bedeutsame Zuhause-Geräusche. Zum einen der Rolladenmotor und zum anderen das Klacken des Wasserkochers, wenn das Wasser heiß ist. Ich sitze in meinem Bett. Meine Nachtischlampe, die Lichterkette an meinem Bett und der Display vom Laptop spenden das nötige Licht, das mein Herz vom Suizid abhält. Mein Telefon blinkt. Ich wundere mich jeden Tag aufs Neue, dass es Menschen gibt, die mit mir in Kontakt treten wollen. Ich bezahle sie nicht dafür, das schwöre ich. Ich lasse es weiter blinken und versuche es zu ignorieren. Es macht mich nervös.
Meine Haut ist durchsichtig und dünn. Sie wärmt mich nicht. Ich friere. So wie das Wasser die lodernden Flammen erstickt, so macht die eisige Kälte dies mit meiner Herzenswärme. Die Sonnestrahlen sind kühl, sie wirken unecht. Keine mutige Wolke am Himmel.
Allzu oft geschehen in Urlaubsparadiesen traumatische Dinge. Sei es eine Umweltkatastrophe, eine Straftat von der man Opfer wird oder schlicht und einfach die Feststellung, dass die eigene Familie oder der Freundeskreis nicht mehr ist, was er mal war. Vielleicht ist man selbst auch einfach nicht mehr die Person, die damals ihren Platz in dieser Gruppe gefunden hat. Die Schuhe passen nicht mehr so gut wie damals. Sie sind zu ausgelatscht um nur eingelaufen zu sein. Sie sind zu oft in Hundehaufen getreten. Ich passe nicht mehr in meine Haut, sie ist zu durchsichtig für mich.
Ich verfolge schon seit deinem ersten Beitrag deinen Blog.
Du schreibst unglaublich gedankenvoll & tiefgehend, basierend auf einer empfindsamen Wahrnehmung deiner Umgebung, verbunden mit einer unglaublich schönen Sprache!
Ich wünsche dir sehr, dass du irgendwann einmal dein "ich" finden kannst, für dich da sein kannst, ganz als "du" auf der Welt sein kannst.
Das mit dem Diabetes & der MS ist echt scheiße, ich habe auch T1 & ein paar weitere Hauptgewinne aus der Krankheitstombola gezogen.
Ich kann deine Gedankengänge sehr gut nachvollziehen und muss sagen, dass ich auch nach über einem Jahrzehnt Diabetes manchmal jeden Tag sämtliche Krankheitsverarbeitungsstufen (von Verleugnung über Trauer zu Wut, weiter zur Angst, Zwischenhalt bei der Akzeptanz dann wieder Übergang zum Trotz usw.) durchlaufe.
Ich habe lange gebraucht & arbeite jeden Tag daran mich zu akzeptieren & für mich selbst da zu sein, mir zu sagen, dass niemand das Recht hat mich zu verletzen – in welcher Form auch immer, stelle mich der Aufgabe mich auch mal vor mir selbst zu verteidigen, was jedes Mal aufs neue ein Kampf ist – auch die Akzeptanz, wenn ich eben das gerade geschriebene einfach mal nicht schaffe…
Der Begriff, der mir bei deinem Text auch schon vor der entsprechenden Stelle im Hinterkopf war, war die "Sehnsucht".
"Es ist diese unerbitterliche Sehnsucht, die Sehnsucht, die ich so sehr liebe, die in mir alles zerstört und doch wieder aufbaut."… schreibst du
& in Kombination mit "einfach festgehalten zu werden", wünsche ich dir, dass du irgendwann die Geborgenheit findest, die dir – ebenso wie jedem Mensch – zusteht & du aus der Sehnsucht viel Kraft gewinnen kannst jeden Tag neugierig ins Leben zu starten & sich der ein oder andere Wunschgedanke auch verwirklicht – sei es auch in eine ganz anderen Form als ursprünglich erhofft.
Weg vom Menschsein, hin zur Online-Anonymität noch eine Frage & ein Tipp:
Was machst du eigentlich für eine Therapieform?
Tolle Comics, bei denen man sich doch ab und zu sehr verstanden fühlt: http://www.robot-hugs.com/tether/
Viele Grüße