Ich habe „Tote Mädchen Lügen Nicht“ gesehen und seitdem stelle ich mir immer wieder die gleiche Frage: Wie habe ich es geschafft, zu überleben?
Wie habe ich es geschafft, das zu überleben? Meine Kindheit, die Schulzeit, das Erwachsenwerden, das Leben. Der Schmerz von all dem, was je passiert ist, ist immer noch abrufbar. Er ist nicht mehr unüberwindbar, aber er ist nicht vorbei. Das ist ein wichtiges Thema, das Ende vom Schmerz und wann Außenstehende denken, es sei bereits in Sicht. Genau diese Fehleinschätzung kann dazu führen, dass einem ein Mensch entgleitet. Aber darum geht es jetzt nicht.
Ich denke, es gibt nur einen einzigen Grund, warum ich noch lebe: Ich hatte schon immer Angst vorm Tod. Ich habe nicht Angst vorm Sterben an sich, aber vor dem, was danach kommt. Die allererste Panikattacke in meinem Leben war genau dieser Angst geschuldet; sie kam aus dem Nichts, ich war noch klein und auf dem Weg zu meiner Oma. Vielleicht sind es inzwischen 20 Jahre, in denen diese Panikattacken immer wiederkehren. Wer selbst Panikattacken hat, weiß, wie furchtbar sie sind. Aber trotzdem sind sie es wohl, denen ich verdanke, noch zu leben.
Meine psychischen Schmerzen waren oft, wirklich oft, so groß, dass ich nicht dachte, dass sie vorbei gehen könnten, solange ich noch lebe. Dennoch passierte nie mehr, als der Versuch mir mit dem Kopfkissen die Luft zu nehmen und sobald mir komisch wurde, hörte ich auf.
Ich verletzte mich selbst. Aber nicht auf eine Art, dass es jemand mitbekommen hätte. Ich habe mich selbst geschlagen. Auf meine Oberschenkel. So doll, dass ich nicht wusste, ob meine Hand oder mein Bein mehr weh tat. Und dann lachte ich. Während ich weinte. Es war genauso bedrückend und einem klischeebehafteten Film über Psychopathen gleich, wie es klingt.
Meine Schmerzen kamen von außen, blieben am Ende aber ganz tief drinnen. Damit meine ich nicht die Empfindungen nach meinen Schlägen. Es geht um die Dinge, die andere mit mir gemacht haben. Das meiste davon in meiner Kindheit.
Es gibt diese Menschen, die sagen, die Schulzeit sei die beste Zeit überhaupt gewesen. Sie sagen das, wenn Kinder keinen Bock auf den Unterricht haben und sie sagen das, wenn sie selbst keinen Bock auf 9 to 5 haben. Und ich wusste immer, dass das in meiner Welt nie der Wahrheit entsprechen kann.
Ich kann die Peiniger meiner Schulzeit in Gruppen aufteilen. Es gab „die zweifelhaften Freunde“ und „die Mitschüler/Mitläufer“.
Die zweifelhaften Freunde
Sie begegneten mir früh. Würde ich Namen nennen, würden sie, selbst wenn sie es hier läsen, sicher trotzdem nicht sich selbst zu ordnen. Ich denke nicht, dass die, die zu dieser Personengruppe zählen, heute nicht einschlafen können, weil sie sich bewusst darüber sind, was sie mit mir gemacht haben. Vielleicht war ihr Handeln nicht einmal Ausdruck ihrer schlechten Persönlichkeit oder ihrer, wie meine Klassenlehrerin damals über das eine Mädchen sagte, Sozialen Verwahrlosung. Vielleicht war es nur ein ausprobieren. Und deswegen wissen sie nicht, was es angerichtet hat. Das Verhalten der „zweifelhaften Freunde“ ist gut mit Zuckerbrot und Peitsche und allem, was ihr euch darunter vorstellt, zu beschreiben. Ich wollte gemocht werden und dadurch war ich leicht zu treffen. Mir wurden beste Freundschaften geschworen, um mich am nächsten Tag komplett zu ignorieren. Man verabredete sich mit mir, um zum Zeitpunkt des geplanten Treffens bei jemand anders zu sein. Man tuschelte während des Unterrichts über mich, sprach in der Pause normal mit mir, tuschelte wieder und wollte dann im Bus nicht mehr neben mir sitzen.
Ich war eins dieser Mädchen, das als allerletzte in die Sportmannschaft gewählt wurde. Nein, ich war nicht eines davon, ich war das einzige. Aber das ist okay. Damit verglichen, was sonst noch so war. Denn aus solchen Situationen entwickelte sich eine Dynamik, die auch bisher Unbeteiligte mit ins Boot holte.
Die Mitschüler
Aus heutiger Sicht weiß ich, wie schwierig es wäre, sich gegen die Mitläufer-Rolle zu wehren. Die, die das taten, hatten wahrscheinlich nicht einmal ein persönliches Problem mit mir. Es war mehr die eigene Angst, sonst zur Zielscheibe zu werden. Und manchmal, wenn die böse Seite mal ein bisschen angepikst wurde, gibt es dort so viele Abgründe, die noch ausgelebt werden könnten. Hänseleien waren irgendwie Alltag. Oder so was in der Art. Zumindest glaube ich nicht, dass sie mich noch groß gestört haben. Nachhaltig hat das natürlich viel mit meinen Selbstwertproblemen zu tun. Aber zu dem Zeitpunkt waren es andere Momente, die mich Stück für Stück zerbrechen lassen haben. Es gibt 3 Situationen, von denen ich bereit bin, zu erzählen. Alle fanden während der 5. und 6. Klasse statt.
Situation 1: Es war die letzte Doppelstunde des Schultages. Ich erinnere mich nicht, welches Unterrichtsfach, aber es war nicht in dem Klassenzimmer, in dem sonst Unterricht war und die Schüler waren unter den Parallelklassen gemischt. Es war ein guter Tag. Zu der Zeit verstand ich mich mit einem Mädchen besonders gut. Sie mochte Pferde, das reichte absolut dafür aus, dass ich sie mochte. Nach der Schule telefonierten wir manchmal noch. Es war ein guter Kontakt. Und dann war da dieser Tag. Die besagte „Freundin“ unterhielt sich mit 2 oder 3 anderen Mädchen, es war gerade Pause. Als ich dazu kommen wollte, wurde ich weggeschickt. Die Mädchen kiecherten und gingen zusammen raus. Sie stellten sich vors Fenster, so dass ich sie sehen konnte und ihre Gestiken machten deutlich, dass sie über mich sprachen. Sie sprachen und lachten. Dann kam ein Mädchen alleine wieder rein, sie kam zu mir und sagte diese wenigen Worte: „Ich soll dir von XYZ sagen, dass sie jetzt nicht mehr deine Freundin ist.“ Und in mir war ein Entsetzen, eine Traurigkeit, eine Fassungslosigkeit, für die ich nicht einmal ein paar bebildernde Worte finde. Ich fragte noch: „Warum?“ …
Situation 2: Matheunterricht. Matheunterricht fand in A- und B-Kursen statt. Also auch gemischte Klassen. In diesem Unterrichtsraum saß rechts neben mir ein kleines, zierliches Mädchen aus der Parallelklasse, das auch eher eine Außenseiterin war, aber dafür ne echt große Klappe hatte. Mit ihr fühlte ich mich einigermaßen sicher. Links neben mir ein Junge aus der Parallelklasse. Ein Junge, der mir die gesamten 45 Minuten Unterrichtszeit immer wieder die Nadel vom Zirkel in den Oberschenkel rammte. Es war kein neckisches mal Piksen, weil wir Vorpubertär sind, es war Gewalt. Jede Mathestunde. Und Mathe war mein Lieblingsfach.
Situationen 3: Lach doch mal! Ich befand mich schon lange in der Mobbing-Situation. Ich versuchte nicht mehr, gemocht zu werden, ich bildete mir nicht ein, dass es eine Chance dafür gäbe. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte auch nicht mehr zur Schule. Ich fuhr nicht mehr mit dem Schulbus. Meine Mutter brachte mich persönlich. Jeden Morgen holten mich die gleichen Mädchen direkt vom Auto ab. Für meine Mutter das Zeichen, dass ich doch Freunde hatte. Für mich der Moment, in dem das Drama anfing. Ich kann mich nicht an die Augenfarben der Mädchen erinnern, aber ich weiß genau, wie sie geguckt haben. Sie haben sich gefreut. Darüber, dass ich endlich da war. Darüber, dass der Spaß endlich los ging. Sobald ich ausstieg, war ich sicher, dass ich nie wieder glücklich sein werde. Ich lachte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr zu tun, als wäre es okay. Und wer kennt es nicht, wenn zum Teil fremde Menschen sich heraus nehmen, einen darauf aufmerksam zu machen, dass man doch nicht zu grimmig gucken solle. Bis heute bin ich auf solche Aussagen allergisch. Aber an dem Tag folgte der viel zu bildliche Schritt, um mir ein Grinsen festzutackern. Mir wurde in die Wangen gekniffen, die Mundwinkel hochgezogen und die Haut versucht zwischen Ober- und Unterseite des Tackers zu klemmen. Meine Wangen waren zu dick. Danke, Pausbäckchengott.
Starke Kinder mobben nicht! Ein Text auf der Seite des Verlages “Briefgestöber”, an dem ich gemeinsam mit der Kinder- und Jugendtherapeutin Gundula Göbel geschrieben habe.
Hier findet ihr einen Text über Mobbing, den ich 2015 für den Blog geschrieben habe.