Das zarte Wilde

Die besten Worte und die besten Eigenschaften in Verbindung gebracht. Zarte Seele, wildes Herz. Zarte Haut, wilde Haare. Zarte Kekse, wilder Tanzstil – okay, ich bin nicht böse, wenn hier jemand „wild“ durch „unkontrolliert“ ersetzt. Ich identifiziere mich mit zart und wild. Weil ich es bin und weil ich es sein will. Aber ich kann es nicht annehmen, inzwischen das zu sein, was ich sein will. Und ich kann es nicht hinnehmen, dass mich Worte beschreiben, die ich mag. Ich würde eher zwanzig Mal hektisch winken, wenn jemand fragt: „Ist das Backpfeifengesicht mit einem IQ von 38 anwesend?“, als „Hier“ zu rufen, wenn nach der jungen Frau mit angenehmer Stimme gesucht wird. (Ich bekomme nicht mal ein Beispiel für etwas Positives hin. Auch gut). Eigentlich bin ich das nicht mehr. Bin nicht mehr die, die nicht daran glaubt, für irgendetwas gut genug zu sein. Ich finde mich nicht mehr dauerhaft scheiße – aber ich habe es lange Zeit getan. Inzwischen fühle ich mich bei einem von zehn Blicken in den Spiegel nicht mehr wie ein Alien. Aber ich rede mir ein, es noch zu tun. Ich bin so routiniert darin, mich runterzumachen, dass ich nicht mehr weiß, wie ich es nicht mache. Auch mein Bedanken für Komplimente besteht darin, es mit fragwürdigen Fakten über mich zu widerlegen. „Deine Augen sind schön.“ – „Aber ich habe Schlitzaugen.“ Gespräch beendet. Ich habe furchtbare Angst davor, mich gutzufinden. Solange ich mich in meinem gewohnten Maße unausstehlich finde, wird es nicht noch einmal jemanden geben, der mich damit schocken kann, mich noch unausstehlicher zu finden. Denn scheißerer als scheiße gibt es nicht. (P.S.: OpenOffice unterkringelt „scheißerer“ auch, ergo: gibt es nicht.) Aber ab dem Tag an, ab dem ich mich mag, wird es wieder Menschen geben, die mich weniger mögen als ich mich selbst. Und das halte ich nicht aus. Ich weiß, ich weiß: Man kann es nicht jedem Recht machen, man kann nicht von allen gemocht werden, man kann nicht alles richtig machen, pipapo. Aber ich will das. Ich will das volle Harmo-Programm. Zu lächeln und zurückzulächeln und jemandem einen Blumenstrauß schicken, weil man ihm in der S-Bahn auf den Fuß getreten ist und einen Blumenstrauß zurückzubekommen, weil man einen Blumenstrauß verschickt hat, weil man wem in der S-Bahn auf den Fuß getreten ist… und am Ende heiraten. Vorm Heiraten bin ich ja allerdings auch geschützt. Wenn wir kurz an diese Leier mit „du musst dich erst selbst lieben, bevor andere dich lieben können“ denken, wird das schwierig. Scheinhochzeit käme vielleicht in Frage. Ist mir dann aber doch wieder zu unromantisch. Aber ich wüsste gerne, wie das ist, mich zu mögen. In vollem Umfang. Nicht nur in einem von 10 Momenten. Wie ist das, wenn man sich leiden kann? Wenn man kein Feigling mehr ist? Und welcher Schritt kommt zu erst: Kein Feigling mehr sein oder sich selbst mögen? In meiner Fantasie bin ich kein Feigling mehr, wenn ich mein Glück nicht mehr von anderen abhängig mache und das tue, wonach mir ist (was in vielen Fällen ein bisschen hirnrissig sein mag). Vielleicht mag ich mich dann auch.

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